22. Dezember 2018 – 23. März 2019
JULIAN CHARRIÈRE
Ever Since We Crawled Out
22. December 2018 bis 23. März 2019
It is interesting to contemplate a tangled bank, clothed with many plants of many kinds, with birds singing on the bushes, with various insects flitting about, and with worms crawling through the damp earth, and to reflect that these elaborately constructed forms, so different from each other, and dependent upon each other in so complex a manner, have all been produced by laws acting around us. …Thus, from the war of nature, from famine and death, the most exalted object which we are capable of conceiving, namely, the production of the higher animals, directly follows. There is grandeur in this view of life, with its several powers, having been originally breathed by the Creator into a few forms or into one; and that, whilst this planet has gone circling on according to the fixed law of gravity, from so simple a beginning endless forms most beautiful and most wonderful have been, and are being evolved.
—Charles Darwin, On the Origin of Species, 1859
Im letzten Abschnitt seines Hauptwerkes konfrontiert Charles Darwin die metaphysischen Auswirkungen seiner Thesen zur Entstehung der Arten in einem prägnanten, jedoch tiefgründigen Bild: Obwohl die Theorie der Evolution anhand der natürlichen Selektion einer allmächtigen Gottheit die Verantwortung für die unendliche Vielfalt der Natur entzieht, wohnt dieser Naturvorstellung dennoch etwas Erhabenes inne. Als ein Werk der Literatur sowie der Wissenschaft, fasst Darwins narrative Erklärung des Ursprungs der Arten seine über Jahrzehnte gesammelten Beobachtungen – von England bis Südamerika, West Afrika und Australien, bis hin zur aussergewöhnlichen Biodiversität der Galapagos Inseln – in einem einzigen synthetischem System zusammen. Inzwischen wird angenommen, dass Darwins Analogie einer «wuchernden Böschung» von einer kleinen Anhöhe in der Nähe seines Hauses in Kent inspiriert war, wo er das Wirken all jener Naturgesetzte beobachten konnte, die er zuerst in Ökosystemen auf der ganzen Welt entdeckt hatte.
Für Darwin kam es überraschend, dass er nicht als einziger jene grundlegende Logik erkannt hatte, die heterogene und geografisch getrennte Umwelten miteinander verband. Er teilte diese Ehre mit einem anderen englischen Naturalisten der Kolonialzeit, Alfred Russel Wallace. Ähnlich wie Darwin von Theorien des gradualistischen Wandels bei Charles Lyell, Jean-Baptiste Lamarck und Alexander von Humboldt beeinflusst, zog Wallace seine Schlüsse aufgrund von Reisen zum Malaysischen Archipel, das heutige Indonesien, Singapur und Malaysia. Er veröffentlichte seine Beobachtungen schliesslich mit einer rührenden Widmung an Charles Darwin. Diese aussergewöhnliche, aus einer gleichzeitigen Entdeckung entsprungene Freundschaft, zeugt von einem humanistischen Geist der sich nicht abschrecken lässt von einer Erklärung menschlichen Ursprungs, welche die besondere Würde unserer Spezies in Frage stellt. Das Bedürfnis, die Idee einer gutartigen Herrschaft der Menschheit über die Erde mit einem Bild der Natur als grausam und gnadenlos zu versöhnen, belastete das Gewissen beider Naturalisten – vielleicht aber besonders Wallace, der seine Theorie aus der Erforschung einer Gegend ableitete deren menschliche Gemeinschaften immer wieder von Erdbeben und gewaltigen Vulkanausbrüchen heimgesucht wurden.
Ever Since We Crawled Out versammelt neue Arbeiten von Julian Charrière, die diese bleibenden Fragen im Kontext des menschlichen Einflusses auf die Systeme der Erde im 21. Jahrhundert untersuchen. In einem historischen Moment in dem Anthropos, als Akteur seiner nominalen Spezies, zum Status einer geologischen Kraft erhoben worden ist – mit katastrophalen Konsequenzen für andere Arten und die delikaten Ökosysteme, die wir mit ihnen teilen – lohnt es sich, die in historischen Landschaften latent enthaltenen abstrakten Prinzipien neu zu lesen. Auf dem Boden der Galerie liegt eine grosse Planke verkohltes Tropenholz. Eingraviert in seine angeschwärzte Oberfläche ist eine Montage von Wallaces botanischen Zeichnungen, ein wucherndes Muster aus Pflanzen und Vögeln, manche zu lebensgrossen Proportionen vergrössert.Der Titel der Arbeit, To Observe is to Influence (2018), verweist auf einen Gemeinplatz der Mikrophysik, der hier im Gebiet der Ökologie als eine dunkle, abschreckende Erzählung nachhallt. Der Kurzfilm nach dem die Ausstellung benannt ist, bietet eine spekulative Erklärung für dieses Archiv der Schändung.
An den Hängen des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa, Indonesien, wächst das Laub niedrig und spärlich. Die seltenen, hohen alten Bäume sind von weitem sichtbar, und dienen während dem langen Aufstieg als Orientierung. Man fragt sich ob sie verschont blieben von den Feuerstürmen und Lawinen geschmolzenen Gesteins die diesen Berg vor 200 Jahren, im April 1815, im stärksten Vulkanausbruch der dokumentierten Geschichte, kahl schlugen. Noch immer sieht man die Folgen dieses Ereignisses, fussballgrosse Felsen übersäen die Felder und verkohlte Baumstämme säumen die Strände der Insel.
Es waren die Geschichten von den Auswirkungen dieses Vulkanausbruches auf der ganzen Welt die Julian Charrière und mich im August 2017 zum Besuch des riesigen Kraters hinzogen. Der Ausbruch war heftig genug um eine Wolke von überhitzten Gasen und die Asche eines verbrannten Berggipfels in die obere Atmosphäre zu katapultieren, wo sie von stratosphärischen Winden zerstreut wurden. Im folgenden Jahr war die erhöhte Konzentration der sonnenblockierenden Partikel in der Atmosphäre hoch genug um den durchschnittlichen Temperaturmittelwert der Erde um ein Grad Celsius zu verringern, was das Klima in verschiedenen Erdregionen für drei Jahre in Folge ins Chaos stürzte. Kälte und Dunkelheit senkten sich mysteriös über die nördliche Erdhalbkugel, während gleichzeitig die Arktis wärmer wurde und ein zerstörerischer Monsun in China und Südostasien Überschwemmungen und Dürre auslöste. Der vulkanische Ursprung und globale Umfang dieser Kaltklima-Krise wurden erst gegen Ende des
20. Jahrhunderts vollumfangend verstanden, nachdem der Ausbruch des Pinatubo ähnliche Effekte produziert hatte. Diese Einsicht schuf einen neuen Kontext für zwei besonders erinnerungswürdige Episoden, die in den Schweizer Alpen im selben Zeitraum stattfanden: Die Konzipierung von Mary Shelleys Roman Frankenstein oder Der Moderne Prometheus (1818) inmitten der wachsenden Angststimmung des «Jahrs ohne Sommer» 1816, und die tragische Überflutung des Lac de Mauvoisin zwei Jahre später, ausgelöst durch ein aussergewöhnliches Wachstum des Giétro Gletschers.
Als wir zum zweihundertjährigen Jubiläum dieser Ereignisse, mitten in einer anderen Klimakrise, zum Tambora zurückkehrten, hatten wir Grund zu fragen, ob die von dieser Landschaft hervorgerufene Verwüstung nicht auch von Menschenhand geschaffen war. Auf unserem Besuch der seismischen Messestation am Fuss des Tambora lernten wir, dass der Name des Vulkans als «Einladung zum Verschwinden» übersetzt werden kann – ein verhängnisvoller Name für einen in Wolken gehüllten Berg, der schliesslich die Hälfte seiner Höhe einbüssen sollte, oder vielleicht ein unfreundlicher Nachruf auf die ehemaligen Bewohner eines von der Eruption ausgelöschten Königreiches. Wir stiessen auf einen alten schwedischen Dokumentarfilm, der die Gründung einer Kaffeeplantage an den Hängen des Tambora aufzeichnet: Eine Zurschaustellung kolonialen Fortschritts, erreicht durch die systematische Abholzung alter Waldbestände. Ever Since We Crawled Out zeigt die Momente in denen uralte, grosse Bäume gefällt werden, zusammengeschnitten aus einem Jahrhundert an vorgefundenem Filmmaterial. Eine unerbittliche visuelle Repetition von einzelnen Instanzen, deren kumulative Auswirkungen bekannt sind: Entwaldung, Verlust von Lebensräumen, Entbehrungen von traditionellen Lebensgrundlagen für indigene Völker, Zerstörung von lebenswichtigen Kohlenstoffsenken. Triumphal aus dem «Kampf der Natur» hervorgehend haben wir die «wuchernde Böschung» gerodet und abgefackelt, das dort herrschende empfindliche Gleichgewicht gestört und die darin enthaltene innere Logik mit unseren selbsterfundenen Geboten ersetzt.
An Invitation to Disappear (2018) ist eine filmische und fotografische Expedition ins Herz einer üppigen dystopischen Landschaft, ein Symptom der aktuellen Verstörung globaler Ökosysteme. Wie im Banne einer unausgesprochenen Versuchung gleitet die Kamera langsam über eine turbulente Wolke hinweg, hinter der Reihe um Reihe von Ölpalmen zum Vorschein kommen, ein schwer mit Früchten beladenes, sich in jede Richtung ausdehnendes Gebilde. Als das schwindende Licht der Dämmerung das dichte Blätterdach des Palmwaldes durchdringt, wird das von den letzten flackernden Sonnenstrahlen auf die Erde geworfene Raster von Lichtblitzen in der Ferne ersetzt. Man fühlt den tiefen, rhythmischen Technobeat bevor man ihn hört.
Der vibrierende Klang vermischt sich mit den Geräuschen des Waldes, löst ein Gespür von Richtung aus inmitten der beängstigenden Unendlichkeit des Rasters. Beständig vom anschwellenden Klang angezogen wie ins Herz eines trüben Trugbildes, bewegt sich die Kamera stetig durch die Dunkelheit bis sie plötzlich auf eine Szene des freudigen Jubels stösst. Eine gigantische Soundanlage wird von blitzendem Stroboskoplicht erhellt. In der unübersehbaren Abwesenheit von Menschen tobt eine Party von mitreissender Intensität. Gefesselt von der Szene bewegt sich die Kamera langsam und stetig durch die Palmenreihe, in einer einzigen scheinbar nichtendenden Aufnahme, die nur durch den dämpfenden Effekt von Schwaden aus einer scheinbar autonom laufenden Rauchmaschine gebrochen wird. Im Laufe der Nacht setzt das Delirium ein, der Bass hämmert unablässig auf die tauben Ohren der Monokultur-Plantage, den Höhepunkt des kollektiven Bewusstseins endlos hinauszögernd. Das trübe Licht des Morgengrauens schneidet durch die Palmenwedel, die Kamera für einen Moment blind in einem wirbelnden Nebel, durch den die Expedition wieder von neuem beginnt, in einem unendlichen Loop.
Gefilmt auf einer Ölpalmenplantage an einem namenlosen Ort, ein Nirgendwo das irgendwo in Indonesien oder Malaysia sein könnte, wo der grösste Teil des Palmöls weltweit hergestellt wird, inszeniert der Film eine verstörende Konfrontation mit den widersprüchlichen Versprechen zweier globaler Monokulturen: Der Rave und die industrielle Landwirtschaft. Lässt sich hier Schönheit finden? Ist noch etwas Erhabenes an dieser Landschaft und den Gesetzen, die sie aufruft? Ein enormer Zylinder aus Glas enthält die wertvolle Ernte der Landschaft, allgegenwärtig im Essen, in der Kosmetik, und sogar im Biotriebstoff. Die beleuchtete rote Flüssigkeit brodelt langsam in Love-In Krakatoa (2018) hoch: Eine riesige Palmöl-Lavalampe, die einen goldenen Schimmer über die Galerie legt und so optisch das den Raum durchdringende, aggressive mechanische Surren mildert. Das Geräusch stammt von einer Bandschleifmaschine an der Wand, hergestellt aus vulkanischem Geröll von den beiden Vulkane Anak Krakatau und Merapi in Inonesien, deren Bewegung die unauflösliche Spannung zwischen den kreativen und den destruktiven Tendenzen in der Natur, sowie in uns selbst bekräftigt.
BETHAN HUWS 22.December2018bis 23.März2019
Bethan Huws’ Atelier in Berlin ist wie ein Forschungslabor, das sich gleichermassen mit materiellen, wie immateriellen Substanzen beschäftigt ist. Als ich Huws diesen Sommer besuchte, waren die grossen Tische im Zentrum ihres Ateliers mit Kieselsteinen übersät, als wäre vor wenigen Augenblicken ein Fluss durch den Raum geströmt, das halbe Flussbett dort zurücklassend. In ähnlicher Dichte, bevölkerten Notizen, Zeitungsausschnitte und Bilder, welche sich auf eine scheinbar endlose Anzahl kunsthistorischer und linguistischer Untersuchungen bezogen, die Wände des Ateliers.
Einige dieser Untersuchungen waren, wie von einer besonderen Dringlichkeit angetrieben, in den Vordergrund geschoben worden. Sie bewohnten den zentralen Raum auf beweglichen Tafeln und bildeten dort jeweils verschiedene Konstellationen. Auf einer dieser Tafeln umgaben farbige Haftzettel und handschriftliche Analysen zu Längen- und Breitengraden zwei Reproduktionen: Gustave Courbets Origine du Monde (1866) und Marcel Duchamps Étant Donnés (1946–66). Auf einer anderen Tafel war Man Rays Portrait von Duchamp mit zwei historischen Selbstportraits gruppiert: Caravaggios Junge, von einer Eidechse gebissen (1594-95) und Courbets Der Verzweifelte (1843-45). Die Portraits dieser drei bedeutenden Herren waren umgeben von detaillierten Notizen zu möglichen Anzeichen von Wahn und Verzweiflung, die Huws in deren Mimik und Körpersprache ausfindig gemacht hatte.
Die bildlichen Kombinationen und ikonografischen Traditionslinien, die in diesen Forschungstafeln zum Vorschein kamen, waren von scharfsinniger und beispielsloser Natur. Die begleitenden Notizen zeugten weiterhin von Huws’ bemerkenswerter Kapazität zum analytischen und synthetischen Denken. Während ich begierig alle diese Informationen in mich aufsog, empfand ich Demut gegenüber Huws’ kunsthistorischem Wissen und ihrem präzisen visuellen Erinnerungsvermögen. Während ich sodann nach Anhaltspunkten suchte, wurde mir bewusst, dass ich mich nicht nur in eine mitreissende Gedanken-Lawine hineinmanövriert hatte, sondern auch noch von den möglichen Überresten einer tatsächlichen Lawine umgeben war: hunderten von Steinen.
Das kommunikative und generative Vermögen der Kunst, welches sowohl augenblicklich, als auch im Verlauf der Zeit zum Vorschein treten kann, steht im Zentrum von Bethan Huws’ vielschichtiger künstlerischer Produktion, die Performance, Installation, Film, Skulptur, Zeichnung, sowie auch Schriften umfasst. Fortlaufend Konzepte des Verstehens und Fragen der Bedeutung umkreisend, seziert und analysiert Huws die Vergangenheit, um die Gültigkeit und mögliche Relevanz deren Konzepte zu prüfen. Vor etwa zwanzig Jahren, nachdem sie Duchamps Fountain (1917) in Rom gesehen hatte, begann Huws Duchamps Arbeit ins Zentrum ihrer eigenen Untersuchungen zu stellen. Seither ist Duchamp zum Barometer ihres Denkens über Fragen der Kunst geworden, sowohl der seinen, sowie der ihren. Zwischen Reflexion und Produktion oszillierend, geht Huws das Konzept des Readymade mit diversen Strategien an: Manchmal reflektiert sie darüber, manchmal adaptiert sie es in ihrer eigenen Praxis. Während die Recherche zweifellos die raison d’être von Huws Praxis bildet, zielt ihre Kunst weder auf unmittelbares Verständnis noch auf die Vermittlung didaktischer Inhalte ab. Stattdessen, ist ihre assoziative und grosszügig einladende Kunst grundsätzlich lebensnah, und voller Affekt und Humor.
Die Frage, mit welcher Huws ihre Ausstellung hier in der Galerie Tschudi eröffnet, lautet: “Où sont les toilettes, s’il vous plaît?” (2018). Diese scheinbar höfliche und banale Erkundung nach den Toiletten ist direkt am Eingang der Ausstellung und gleich um die Ecke zum Bad platziert und in hell leuchtender Neonschrift materialisiert. Bedenkt man das gezielte Setting, am Eingang eine Kunstausstellung, so verwandelt sich die seltsame Vertrautheit dieser Frage schnell in etwas anderes. Laut Huws, gibt es in der Kunstgeschichte nur eine Toilette: Das Pissoir von Marcel Duchamp.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors begegnen wir Carotte de tabac (2018), eine Skulptur, die aus einer doppelten konischen Struktur aus Kupfer besteht, um welche sich eine glühende rote Neonröhre windet, wie eine Schlange um einen Ast. Der Titel des Werks verweist auf den Herzkunft der Form: «carotte de tabac» nennt man die Schilder, die in Frankreich vor Tabakläden hängen. InDuchamps Arbeiten finden sich viele Bezüge zu Tabak, ein Umstand der auf die etymologische Bedeutung des Wortes «esprit» zurückgehen könnte.
In einem Raum im Erdgeschoss der Galerie sind drei Wortpaare und ein einzelner Begriff in transparenten, mit Argongas gefüllten Neonröhren wiedergegeben: Recognition/Realisation, Surface/Depth, Extra/Ordinary, und An Artist (2018). Die ersten beiden Begriffspaare beziehen sich direkt auf Huws’ Arbeitsweise: Nachdem sie zuerst etwas mit den Sinnen erkennt – eine Form, zum Beispiel – versucht sie in einem zweiten Schritt das Erkannte zu artikulieren. So wird Erkennen zu Erkenntnis. Und weil sie diese Phänomene ihrer Erkenntnis stets schichtet, überlagert, und verbindet, erreicht sie in ihrem Werk eine gewisse Tiefe. Extra/Ordinary hingegen drückt das Verlangen aus, die Natur, die menschliche Natur in ihrer Besonderheit zu verstehen. Aussergewöhnlich zu sein bedeutet (alles ausser) gewöhnlich zu sein. Und was, nun, bedeutet die Arbeit Ein Künstler? Dieses Werk basiert auf Huws’ Interpretation einer Aussage von Marcel Duchamp in einem Interview mit Richard Hamilton von 1959. Während Hamilton vorschlägt, Duchamp als einen «anti-artist», einen anti-Künstler zu begreifen, besteht Duchamp darauf «ein Künstler» zu sein. Für Huws, deutet dies darauf hin, dass Duchamp sich als individueller Künstler positionierte und damit nochmals verdeutlichte, was er sein ganzes Leben lang betonte: die revolutionäre Kraft des Individuums.1
Reason (or Winter) (2018) ist ein Globus aus Acrylglas dessen Unterbau unter einem mysteriösen schwarzen Rock versteckt bleibt. Der Globus enthält Wasser, Styroporflocken und ein weisses Keramikobjekt. Zusammen ergeben diese «Zutaten» ein Spektakel: Mitten in einem wirbelnden Schneesturm dreht sich ein Pissoir im Kreis. Als ich dieses erstaunliche Werk zum ersten Mal sah, konnte ich mich nicht recht entscheiden, ob das Pissoir eher wie ein weisser Rennwagen in einer Winterlandschaft aussieht, oder aber wie der Heilige Geist in Persona.
Auf einer rein visuellen oder formalen Ebene, da der Schnee und das Pissoir beide weiss sind, vermittelt diese Arbeit eine Erfahrung des Erhabenen. Gleichzeitig finden wir eindeutige Referenzen an die Populärkultur: sowohl das Pissoir als auch die Schneekugel sind populäre Objekte, und akzentuieren so Duchamps «Versöhnung der Kunst und des Volkes».2 Die explizite Referenz für das weisse Keramikpissoir in Reason (or Winter) ist natürlich Duchamps Schlüsselwerk Fountain (1917). Die Arbeit versteht sich aber auch als Hommage an eine Vielzahl weiterer Arbeiten Duchamps, die entweder implizit oder explizit auf den Winter oder den Schnee verweisen. Könnte der Schneesturm in Reason (or Winter) vielleicht auch ein «Brainstorm» sein?
Im ersten Stock der Galerie begegnen wir sieben Tafeln bestehend aus Huws’ Research Notes (2007- 14). Diese Auswahl an Forschungsnotizen, welche ursprünglich in einer Publikation von über 600 Seiten veröffentlicht wurden, verdeutlicht exemplarisch den distinguierten Charakter von Huws’ kumulativen Untersuchungsprozessen: Es handelt sich um eine persönliche Lektüre von Duchamps Werk, die postuliert dass bei Duchamp mehr im Spiel ist, als nur das Offensichtliche. Es ist die Lektüre einer «Künstler-Komplizin», die eine tiefe Struktur zahlloser Referenzen erkennt, welche es zu entschlüsseln gilt.3
1 Man beachte, dass der individuelle Künstler, in seiner Singularität, der von Pluralität geprägten Künstlergruppe entgegensteht (zum Beispiel, die Kubisten, Dadaisten, Surrealisten etc.)
2 Die Möglichkeit einer «Versöhnung der Kunst und des Volkes» in Duchamps Werk wurde von Guillaume Apollinaire vorhergesagt.
3 Der wunderschöne Begriff der «Künstler-Komplizin» («artist accomplice») ist Hans Rudolf Reusts Essay «Reading Duchamp» entnommen, in: Bethan Huws. Research Notes. Köln: Buchhandlung Walther König, und Paris: Dieter Association (2014)