Wanda Guanella: Gesichter und Profile des Bergells

Galleria il Salice, Castasegna, 3. April – 23. Oktober 2021.

Wanda Guanella portraitiert Marcella Meier, Silvia Andrea Garbald, Elda Simonett, sich selbst, Varlin, und viele mehr..

Das Bergell und die Bergeller

Gottardo Segantini, Heimatschutz, Heft Nr 4, Juni 1927

(…) Haben Sie nicht schon lange beobachtet, dass die Landschaft seelisch und geistig auf ihre Anwohner abfärbt? Der Mensch verwächst mit seinem Land, mit den Jahrhunderten entsteht zwischen dem Bewohner einer Gegend und der Gegend selbst so etwas wie eine Verwandtschaft, die um so auffälliger ist, je abgeschlossener die Gegend. Es handelt sich nicht um eine anerzogene Liebe, sondern um eine Anpassung des Menschen an seine Umgebung, um die Gestaltung und Bestimmung des lokalen Charakters im Einklang mit der Gegend selbst. Wer die Bergeller kennt, muss die Richtigkeit dieser Beobachtung als hier vollkommen zutreffend erachten. Das Tal ist, wie wenige in den Alpen, wuchtig, kantig, zwischen zwei Bergketten, die von Südwesten nach Nordosten ziehen, eingesenkt. Dunkle Waldungen steigen steil hinan bis zu den nackten Felswänden, nur an den Nordhängen hat es Weiden und Wiesen. Auf der Talsohle, die meist sehr eingeengt ist, sind die kleinen Dörfer zerstreut. Bei Castasegna, gleich an der italienischen Grenze, dehnt sich ein Kastanienwald aus, der sich bis hinauf nach Soglio am Nordhang und nach Bondo imTal erstreckt. Man könnte sich im Süden denken, doch gleich hinter dem Schlosshügel von Promontogno sind wir im Hochgebirge, über Stampa, Borgonovo, Vicosoprano und dann durch hohen Tannenwald nach Casaccia erreichen wir den Malojapass. Das Tal der Maira, wie das Bergell auch genannt wird, reicht durch die Orlegna bis nach Orden bei Maloja und politisch bis nach Isola und Plaun da Lei am Silsersee.

(…) das Tal der Maira (ist) wie eine Verlängerung nach Südwesten des Engadins. Geographisch hat das Bergell zwei Ursprungsgebiete: Unterhalb Casaccia vereinigt sich die Ordlegna mit der Maira, erstere kommt aus dem Fornogebiet und dem Cavalocciotal, die andere hat sich um den Piz Duana gewunden und an den hinteren Bergen und Seen des Morozzotals ihre Quellen gehabt. Zwischen diesen mächtigen Wurzeln, die das Bergell in den südlichen und nördlichen Bergmassiven geworfen hat, erstreckt sich über die blaue Fläche des Silsersees hinweg die politische Zugehörigkeit der Gegend von Maloja an die Gemeinde Stampa bis zum Silsergebiet.
Wo kann man eine Talschaft finden, die so abwechslungsreich an Schönheiten wäre? Soglio, das Giovanni Segantini die „Schwelle des Paradieses“ genannt hat, erhebt sich gegenüber der urgewaltigen Gruppe der Bondasca; jene Felsen und Klippen sind, wie Bergeller Menschen im Sturm des Lebens, mächtige Einsiedler, die in harter Arbeit dem Werden trotzen. Nicht umsonst hat der Maler hier das „Werden“ gemalt. Unten im Tal, im Schatten der grossen Waldungen und der romantischen Felszacken, die gespensterhaft in den Himmel ragen, leben die Bergeller im Kampf mit der feindlichen Natur, ernst und Gott vertrauend. Wenn sie in den Sommermonaten nach der Alp ziehen, am Fusse des Piz Duana oder nach Maloja, wenn im Herbst bei der Jagd sie hoch in den Felsen dem Wild nachspähen, dann jubelt ihre Seele auf und sie fühlen ihre Freiheit wachsen und hinaufsteigen bis vor Gottes Antlitz.

Auf Maloja hat Giovanni Segantini das Bild „Vergehen“ gemalt. Einsamkeit und Grösse atmet die Landschaft, sie ist nur für Riesen gemacht, und die kleinen Menschen und ihre Leiden wachsen hier ins Gewaltige. Man kennt zu wenig das Bergell, man übersieht es, weil das Engadin so nahe liegt, weil die Menschen vor dem wirklich Grossen, dem Ernsten Angst haben und es zu bequem ist, nicht selber denken und selber schauen zu müssen. Denn das Bergell ist nicht nur gross, es kann auch lieblich sein, es ist malerisch. Es ist die Wiege von zwei grossen Schweizer Malern, Giovanni und Augusto Giacometti, und wir werden bald von einem dritten Giacometti hören, von Alberto.

(…) Der Bergeller ist stolz, und mit Recht. Der Bergeller ist herb wie seine Berge, die die weichen Linien der grossen Gletscher nur selten kennen. Der Bergeller ist gerechtigkeitsliebend. Während die andern drei Talschaften in der Hauptsache katholisch geblieben sind, ist das ganze Bergell protestantisch. Was beweist das? Dass diese Menschen in ihrer Einsamkeit viel denken und den Mut haben, ihre Gedanken zu verfechten. Hart an der Grenze Italiens, wo alle katholisch waren, hat der Bergeller in der Reformationszeit erkannt, dass die neue Lehre seinem Unabhängigkeitsempfinden besser angepasst war, dass er so von der Höhe und aus der Einsamkeit seiner Berge besser ohne Zwischenpersonen zu seinem Gott gelangen konnte. Der Bergeller ist demokratisch, weil er unabhängig sein will, und so ist er in seinem Demokratentum ein Einsiedler, ein König. Wenn Könige untereinander auskommen wollen, müssen sie sich gegenseitig schätzen, oder wenigstens nicht die gegenseitigen Rechte beeinträchtigen. Und so werden sie Demokraten. Der Sprache und der Kultur nach italienisch, ist das Bergell gut bündnerisch in seinem bäuerlichen, stolzen Demokratentum, das die kantige Wucht der Bondascaberge hat.