ANDREA BÜTTNER: Triebe & CALLUM INNES

Galerie Tschudi, Zuoz, 24. Juli – 25. September 2021.

Triebe (Pressetext Galerie Tschudi)

Von Patrizia Dander, Leitende Kuratorin, Museum Brandhorst

Im Frühjahr 2020 begann Andrea Büttner, die Spargelernte im Berliner Um- land zeichnerisch zu begleiten. In klassischer plein-air-Manier beobachtete
und skizzierte sie Arbeiter1 bei der körperlich anstrengenden und bis heute von Hand ausgeführten Ernte. In langen Dämmen aus angehäufter Erde gezüchtet und von Folien vor Sonneneinstrahlung wie Kälte geschützt, wächst der (weiße) Spargel unter der Oberfläche heran. Mit hoher Geschwindigkeit und Präzision legen erfahrene Arbeiter die empfindlichen Spargelköpfe, die die kompakte Erddecke durchdringen, zunächst mit zwei Fingern frei. Sie umgraben die Triebe und kappen sie mit dem Spargelmesser rund 20 cm unter der Erdoberfläche. Danach verschließen und glätten sie den Boden mit einer Kelle für die noch

im Wachsen befindliche Triebe und decken den Damm wieder mit der Folie ab. Diese Arbeitsschritte, die allesamt in gebückter Haltung – mit geradem Rücken und leicht gebeugten Knien – ausgeführt werden, werden Meter um Meter, Reihe um Reihe wiederholt; über 10 Wochen hinweg, so lange dauert die Ernte üblicherweise.

Die in Triebe versammelten Skizzenbücher, Holzschnitte, Radierungen, Schnitz- arbeiten sowie eine Tischskulptur aus Ton beziehen sich allesamt auf die Spar- gelernte. Ausgehend von zahlreichen Zeichnungen, die in groben Linien die ver- schiedenen Szenen und Arbeitsschnitte umreißen, hat Andrea Büttner im Laufe des vergangenen Jahres eine dichte und komplexe Gruppe von Werken ge- schaffen, die sich unterschiedlichen Bildern der Spargelernte widmen: von der funktionalen, geometrischen Form der Dämme, über die Umrisse der vornüber gebeugt tätigen Saisonarbeiter*innen bis hin zu Details wie dem Eindringen der Hände in die Erde.

Letztere stehen bei der siebenteiligen Radierungsserie Spargelernte (2021) im Fokus. In einer filmisch anmutenden Sequenz mit CloseUps von Händen bei
der Arbeit – unterbrochen von einem einzelnen Blatt, welches das nach der Ernte wachsende, zarte Spargelkraut zeigt – wird eine irritierende Intimität aufgebaut. Man folgt den Händen, wie sie die Erdschicht durchbrechen, den phallisch aufragenden Spargel freilegen und umfassen und letztlich mit einem langgezogenen Messer kappen. Der Voyeurismus, der im Betrachten Anderer bei der Arbeit liegt, macht die Radierungen zu unbehaglichen Bildern. Die Details der Spargelköpfe und Finger bannen den Blick auf fast pornographische Weise und versetzen eine*n in die Position ungebetener Zuschauer*innen. Gleichzeitig erlauben sie, sich selbst in die Perspektive der Arbeiten zu versetzen – ganz so, als blickte man auf die eigenen Hände bei der Arbeit zu blicken. Diese durch- aus politische Verschiebung ist für das Verständnis von Büttners Ausstellung wichtig.

Deutschland ist nicht nur das größte Spargelanbaugebiet Europas, der Spargel nimmt in Deutschland auch die größte Anbaufläche aller Gemüsesorten ein.
Im Frühjahr 2020 wurde die Spargelernte angesichts Corona-bedingter Einreisestopps für Saisonarbeiter*innen zum Aufhänger für vehement geführte Diskussionen: Nachrichtenbeiträgen über Spargelbauern, die ohne Hilfskräfte aus dem osteuropäischen Ausland ihre Ernte zu verlieren drohten, standen Be- richte über das angesichts beengter Unterbringung erhöhte Infektionsrisiko der Arbeiter*innen und die (längst bekannte) schlechte Entlohnung und harten Arbeitsbedingungen gegenüber. Die Spargelernte wurde zum Emblem für eine Kritik an inneneuropäischer Arbeitsmigration und zu einer ethischen Frage – denn wer würde nach diesen Erkenntnissen noch deutschen Spargel verzehren?

Statt die Spargelernte auf solch politische Fragen zu reduzieren und aus der Rolle der bloßen Beobachterin zu bewerten, nimmt Büttner in ihren Radierun- gen die Position der Erntehelfer selbst ein. Die Demütigung, die im Exponiert- und Ausgebeutet werden der Arbeiter liegt, überträgt sich auf die Subjekt- position der Künstlerin4 – körperliche Lohnarbeit und künstlerische Tätigkeit treten zueinander ins Verhältnis. Auch wenn im Wesen grundverschieden, sind sowohl die Saisonarbeit, als typisches Beispiel für Fremdausbeutung, als auch die künstlerische Tätigkeit, als verinnerlichte Form der Selbstausbeutung,5 durchdrungen von Mechanismen der Kapitalisierung. Doch wie viel verbindet sie, jenseits dieser Parallele? Denn die Hierarchien und potenziellen Ausbeu- tungsmechanismen, die in der Beziehung zwischen Künstlerin und Arbeiter impliziert sind,6 bleiben bestehen – und sie lassen sich ebenso wenig durch den vollzogenen Perspektivwechsel auflösen, wie der Verzicht auf ein unter erbärmlichen Bedingungen geerntetes Gemüse das Grundproblem globalisierter Arbeitsstrukturen zu lösen in der Lage ist. Stattdessen verharrt Andrea Büttner in dieser ambivalenten Position und weitet ihre künstlerische Auseinanderset- zung mit der Spargelernte auf die eigenen Produktionsmittel aus.

Es ist sicher kein Zufall, dass die Künstlerin in diesem Kontext wieder auf den Holzschnitt zurückgreift. Die in Triebe ausgestellten Holzschnitte Erntende, Erntender, Spargelernte, Spargelfeld (2020–21) bestehen aus zwei Motivgruppen: Sie zeigen einerseits den Spargel, genauer die durch die Erde drängenden Spar- gelspitzen, andererseits Männer und Frauen bei der Ernte. Holzschnitte werden mit ähnlichen Mitteln gefertigt, mit denen der Spargel gestochen wird. Das Spargelmesser sieht aus wie ein verlängertes Hohleisen, das im Holzschnitt eingesetzt wird, um das Motiv aus dem Holzblock freizulegen. Wie beim Spar- gelstechen ist auch in den Holzschnitten der weiße Spargel Ort der „Arbeit“: Bei der Spargelernte wird die Erde entfernt, um den Spargel greifen und ste- chen zu können; im Holzschnitt wird die Form des Spargels aus dem Holzblock geschält, um im Druck als Motiv zu erscheinen. Beide ließen sich also als Tech- niken des Sichtbarmachens (von Arbeitsprozessen) beschreiben. Gleichzeitig adressiert der Einsatz von Verfahren wie dem Holzschnitt immer auch deren Position als angeblich mindere Kunstformen. Die Abwertung manueller kunst- handwerklicher Arbeit gegenüber „hochkünstlerischem“ Schaffen in der Moderne wird als gewollte Spannung und als Frage an den Status ihrer Bilder in selbige mit hineingetragen. Zudem wird diese Spannung zum Spiegel einer wie- derauflebenden Fetischisierung des (Kunst-)Handwerks, wie in den Holzschnitz- arbeiten noch deutlicher wird.

Für Spargel (2020–21) hat Büttner Studierende fünf verschiedener Schnitzerei- schulen in Deutschland gebeten, zunächst nach Abbildungen und später nach echter Vorlage Spargelstangen zu schnitzen. In dieser ausgewiesenen Hand- arbeit mit ihren unverkennbaren Unregelmäßigkeiten und leicht variierenden Formen werden Zusammenhänge erkennbar, die Luc Boltanski und Arnaud Es- querre in ihrer Abhandlung Bereicherung. Eine Kritik der Ware7 expliziert haben. Die zentrale Strategie der sogenannten „Bereicherungsökonomie“ besteht den Autoren zufolge darin, Handgemachtes in seiner Vielfältigkeit (im Gegensatz zur Gleichartigkeit der Industrieprodukte) mit Erzählungen von Ursprünglich- keit, lokaler Tradition und kultureller Identität im Wert anzureichern. Die narra- tive Aufladung der Objekte soll – den Wertschöpfungsprozessen in der bilden- den Kunst nicht unähnlich – dazu beitragen, sie letztlich in Sammlerstücke zu verwandeln. Auch die geschnitzten Spargelstangen in Büttners Ausstellung sind nicht nur Produkte traditioneller Handarbeit, sondern werden durch das Motiv des Spargels, dem deutschen Gemüse schlechthin, mit Bedeutung angereichert. Doch statt sie in der von Esquerre und Boltanski beschriebenen Form von Aufwertung aufgehen zu lassen, werden die Holzschnitzarbeiten in Triebe im Kontext „niederer“ Arbeit verortet, die sich narrativ nicht veredeln lässt – der- jenigen Art von Arbeit, die den Rücken krümmt und die Hände schmerzen lässt, und die sich den (echten wie den geschnitzten) Spargelstangen unwiderruflich eingeschrieben hat.

Die vornüber gebeugten Figuren der Spargelstecher*innen, die in den Holz- schnitten und Skizzenbüchern auftauchen, erinnern in ihrer Haltung an frühere Demutsbilder von Büttner. Ohne erkennbare Gesichtszüge, oft mit über den Kopf gezogener Kapuze oder zum Schutz vor Sonne getragenem Hut, stehen
bei den Spargelstecher*innen, wie schon bei Büttners Darstellungen von um Almosen bittenden Beggars, die ausgestreckten Hände im Zentrum. Was bei den Bettelnden als Geste der Hingabe an die Großzügigkeit anderer gelesen werden kann, trägt bei den Spargelstecher*innen eher die Qualität eines Bewei- ses: dass man tut, wofür man bezahlt wird. Und so wird in Erntende, Erntender, Spargelernte die Grenze von der Demut zur Demütigung überschritten. Denn das Bücken ist hier eine Haltung, in welche die körperliche Arbeit zwingt, und nicht mehr Pose einer mehr oder weniger freiwilligen Selbsterniedrigung. Diesen Übergängen widmet sich Büttner auch in ihrer Diaserie zur Kunstgeschichte des Bückens (2020–21).

Mit dem Sujet der „niederen“ Arbeit greift Büttner ein klassisches Thema des Realismus auf, der sich im 19. Jahrhundert der Betrachtung der ungeschönten gesellschaftlichen Wirklichkeit zuwendet. Tatsächlich weisen Malereien wie Gustave Courbets Les Casseurs de pierres (Die Steineklopfer, 1849) mit ihrer Darstellung harter körperlicher Arbeit enge Bezüge zu Büttners Spargelste- cher*innen auf – und zwar in der Ikonographie des Bückens wie in der themati- schen Fokussierung auf sozial-ökonomische Realitäten. Aber es ist ein anderes Motiv, das sich im Zusammenhang der Ausstellung aufdrängt: Edouard Manets Une botte d’asperges (Das Spargelbündel, 1880) beziehungsweise L’asperge (Der Spargel, 1880). In der Tradition niederländischer Küchenstillleben mit entspre- chend bourgeoisen Anklängen gemalt, sind Manets Spargelbilder für Büttner gerade in der Abwesenheit konventioneller Tropen des Realismus von Interesse. Seine Bilder sind frei von Bezügen auf die gesellschaftlichen und ökonomischen

Realitäten dessen, was gezeigt wird, und damit zutiefst ambivalent in einem Œuvre, das grundsätzlich im Kontext realistischer Diskurse rezipiert wird. Diese Ambivalenz lässt sich vielleicht am besten als Ausdruck der Spannung verstehen, in dem sich künstlerische Produktion grundsätzlich abspielt: zwi- schen ihren materiellen und gesellschaftlichen Realitäten einerseits und ihren zutiefst bourgeoisen Mitteln andererseits.

Zum Abschluss ein Blick auf das Werk, mit dem Andrea Büttner ihre Ausstellung beginnen lässt: die im Jahr 2019 entstandene Doppelkanal-Videoinstallation What is so terrible about craft? / Die Produkte der menschlichen Hand. Ausgangs- punkt dieser Videoinstallation ist eine für das Kölner Warenhaus Manufactum arbeitende Schwester der Ordensgemeinschaft Communaute de Jerusalem. Pa- rallel zu Interviewsequenzen, in denen man die Schwester über die Geschichte ihres Ordens, aber auch über ihr Verhältnis zu dem Warenhaus sprechen hört, werden Ansichten ihrer beiden Wirkungsstätten gezeigt – Aufnahmen der roma- nischen Kirche Groß St. Martin in Köln und der Auslagen bei Manufactum. Wie so oft sind es die subtilen Gegenüberstellungen, beispielsweise der kirchlichen Orgelbank mit einer hochwertigen Liege bei Manufactum, oder Detailaufnah- men von Reinigungsmittel, die parallel zur (geistige) Reinigung versprechenden Liturgie eingeblendet werden, die Büttners Videoinstallation so bestechend wie unbequem machen. Denn Manufactums gesamtes Unternehmenskonzept basiert auf der Kapitalisierung von Handarbeit, auch derjenigen, die in Klöstern zur Finanzierung ihres Betriebs erbracht wird. Mit Slogans wie „die guten Din- ge“, die „eine Seele besitzen und weitgehend immun sind gegen den Zahn der Zeit“, suggeriert Manufactum eine Alternative zum „allgegenwärtigen, schnell- lebigen Massenmarkt“9 und setzt dabei genau auf die von Boltanski und Es- querre beschriebenen Dynamiken des Luxusgütermarktes. Mit (rechts)konser- vativen10 und moralisierenden Untertönen behauptet Manufactum ein besseres Leben durch traditionell hergestellte Produkte. Aber besser für wen?