Algen hoch oben aufm Berg: Ein Unterwasser-Ökosystem findet neue Geborgenheit auf Engadiner 1.440 Metern überm Meer.

«Herbarium Algae Alpinum» heisst eine neue Kunstausstellung, die gestern am Samstag, den 22. Mai in Sent, eröffnete. Eine stille, gewaltige Eröffnung. Hoch oben auf 1440 Metern überm Meer, wo sich Sent den Wolken entgegenstreckt, schmiegen sich, neu-geborgen, Algen-Portraits an Engadiner Stubenwände. Eine anti-white-cube Harmonie, die sich respektvoll auf einheimische Ruhe reimt, auf Zurückbesinnung auf qualitätvolles Material und auf aus der prä-industriellen Vergangenheit inspirierten Zukunftsvision.
Der in Toronto aufgewachsene, in Zürich lebende Künstler Simon Heusser – malt Algen.


Nachhaltige Bio-Tinte aus Alpen Algen?

Tinte, Farben, Pigmente werden schon seit Jahrhunderten aus der Natur gezogen. Während der Renaissance wurde aus Lapis Lazuli tiefes Ultramarin-Blau gewonnen, und aus Cochinea Raupen kroch Rot; Kupfer wurde für das Grün in Farben genutzt, und aus Russ oder Kohle wurde Schwarz. Doch die chemischen Innovationen des 19. Jahrhunderts, wie die Gelb-Orange-Rot Palette der Cadmium Farben schätzte man schnell für ihre Leuchtkraft: Leuchtend Orange sticht Monets Himmel beim Untergehen der Sonne ins Auge in seiner Heuschober Serie von 1891, oder gleich stark leuchten Van Goghs Früchte in «Stillleben mit Trauben, Äpfeln, Zitronen und Birnen» von 1887. Die Grade der Toxizität und Gesundheitsschädlichkeit variieren allerdings bei all diesen Pigmenten und nicht zuletzt deshalb hat eine Start-up aus den USA, Living Ink, sich als Mission gesetzt, Petroleum-Derivate, wie Tinte, durch natürliche und nachhaltige aus Algen gewonnenen Technologien zu ersetzen. Heusser, der grosse Begeisterung an der Idee von nachhaltiger Tinte gewann, entschied sich, die Druckfarbe für seine Kunst einzusetzen. Da bislang weltweit doch nur die schwarze Druckfarbe aus Spirulina existiert, ist Heusser aktuell damit beschäftigt, Spezialisten und Biologen in der Schweiz zu finden, Farben aus lokalen Algen zu produzieren. … Wie sähe denn eine Farbe aus Engadiner Bergseen aus? 

Zwei Pigment-Alchimisten und Induktive Portraits

Immer wieder erfindet sich der Diskurs der Kunst neu: was ist – was kann – was soll ein Portrait. Auf 3 Etagen und verwinkelten Zimmern verteilt, betten sich die Portraits von Unterwasser-Pflanzen an den Wänden der Engadiner Stuben in der Chasellas 60. Christian Portner führt liebvoll das Haus, das weit mehr als ein Gasthaus ist. Weggebeamt von der Realität findet man sich in einer fantastische Engadin-Venedig-Märchenwelt wieder, gewürzt mit einer Brise Wohlfühl-Geborgenheit, wie bei Ferien bei Grossmuttern.

Denn auch bei Christian Porter empfangen einen zuerst künstlerisch angereihte Marmeladengläser, die in allen rot-rosa-gelb-Tönen leuchten, in der breiten Pracht der Gesamtpalette der Engadiner Bergblumenblütenfarben. Poetisch haben beide Pigmentenkünstler zueinander gefunden, und der Blüten-Alchimist wird zum Gastgeber des Algen-Malers. «Herbarium (…)» nennt Simon Heussen seine Ausstellung, wobei ein Herbarium eine Sammlung konservierter Pflanzen meist für wissenschaftliche Zwecke darstellt. Wissenschaftlich schon fast geht Heussen der Identitätsanalyse der Algen auf den Grund. Während die meisten Portraits kunsthistorisch Abbilder eines Objektes sind oder Darstellung in einer (un)fotorealistischen Art der Eigenschaften eines Objektes, ist es selten, dass Materie als Selbstportrait wiedergeboren wird. Algen aus Algenpigmenten… Must See: bis 30. Juni in Sent, Chasellas 60. (und nicht vergessen einen Schlüsselblumensyrup von Christian zu probieren! Kunst auf dem Gaumen)

Werke: Atelier Heusser, Monotypen, 2021
Fotos: Carolin A. Geist

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