Das romantische Mailand der “Navigli” zu Gast in St. Moritz

Segantini Museum, St.Moritz, bis Ende Jahr 2021.

Unser Museum darf während der Sommersaison 2021 seinem Publikum Giovanni Segantinis wunderschönes Frühwerk “Il Naviglio a ponte San Marco” (1880) zeigen, ein Gemälde aus italienischem Privatbesitz. Aufgrund des raffinierten Bildaufbaus, des Farbreichtums und der Lebendigkeit und Dynamik des Lichtzusammenspiels stellt dieses Werk des damals 22-jährigen Malers einen absoluten künstlerischen Höhepunkt in seiner ersten Schaffensphase dar. Segantini hatte 1880 seine Ausbildung an der Akademie Brera gerade beendet  und stand „noch ganz am Anfang einer steilen Karriere“, so Diana Segantini, Giovannis Urenkelin und profunde Kennerin des Werks ihres Urgrossvaters. Sie bezeichnet das Gemälde als «wahren Lichtblick in Segantini’s Frühwerk, im sonst eher trüb dargestellten Mailand, wo er zusammen mit seiner Lebenspartnerin Bice Bugatti in ärmlichen Verhältnissen lebte.»

Das Gemälde beschreibt ein Volksfest in dem pittoresken, «venezianisch» anmutenden, heute weitgehend verschwundenen Mailand der «Navigli», also der künstlichen Kanäle, die einst die Stadt mit dem Lago Maggiore, dem Comer See sowie den Flüssen Ticino und Po verbanden. Nicht nur die Brücke San Marco, das architektonische Hauptelement des Bildes, sondern auch das rechte Ufer und die zweite Brücke im Hintergrund der Szene sind mit festlich gekleideten Menschen, vor allem Frauen, bevölkert. Die, bei Segantini eher ungewöhnliche, heitere Stimmung, die uns die schmucken Kleider und Sonnenschirme sowie die drei in den Himmel steigenden Luftballons vermitteln, wird durch das Sonnenlicht verstärkt, in welchem das Mauerwerk der Brücke, des rechten Ufers und der Hausfassaden auf der rechten Bildhälfte hell und warm erstrahlen.
Dieses Licht wiederum verdankt seine Intensität nicht zuletzt dem Kontrast mit den Schattenpartien auf der linken Bildhälfte: Die Vegetation am Kanalufer und vor allem das dunkle dreistöckige Gebäude im Vordergrund sowie dessen Spiegelung im Wasser schaffen ein wirkungsvolles Gegengewicht zu den hellen Bildelementen. Auf der Brücke, die das sonnige mit dem schattigen Ufer verbindet, spazieren leuchtend weiss- neben schwarzgekleideten Damen und Mädchen, während unter ihnen die rechte Ufermauer durch das rhythmische Alternieren von Licht- und Schattensegmenten strukturiert wird. Neben diesen Hell-Dunkel-Kontrasten setzt Segantini auch Farb- und Formwiederholungen raffiniert als bildkompositorische Elemente ein: Das Blau des Himmels und der weisse Farbverlauf der leichten Wolken spiegeln sich im Wasser, so auch die dunkle und die orangene Hausfassade am linken Ufer, wobei das leuchtende Orange, die Komplementärfarbe zu Blau, punktuelle Entsprechungen in einem der Sonnenschirme und im vorderen Teil der Balustrade am rechten Ufer findet. Wirkungsvolle Entsprechungen sind auch bei den Linien und Formen der Komposition festzustellen: Man achte etwa auf den Bogen der vorderen Brücke, der sich mit seiner Spiegelung im Wasser fast zum Kreis schliesst. Dieser lenkt unseren Blick in die Bildtiefe, wo eine grosse Barke und eine zweite Brücke die Bogenform wiederholen.

Das Gemälde «Il Naviglio a ponte San Marco» gehört zur prä-divisonistischen Phase Segantinis. Erst sechs Jahre später wird der Künstler beginnen, seine persönliche Maltechnik zu entwickeln und durch den getrennten (trennen = dividere) Auftrag von Grund- und Komplementärfarben in feinen, langen Pinselstrichen eine immer stärkere Intensivierung des Lichts in seinen Schöpfungen erreichen. Mit seiner Leuchtkraft aber stellt dieses frühe Gemälde, im Gegensatz zu den anderen Werken aus dieser Phase, in denen Segantini meistens die dunkle Palette der Spätromantik übernimmt, eine Vorwegnahme der luministischen Effekte des Divisionismus dar und ermöglicht den Betrachtenden ein intensives, unvergessliches Lichterlebnis.
Das Segantini Museum freut sich, mit der Lebendigkeit, Leichtigkeit, Fröhlichkeit und Wärme, die «Il Naviglio a ponte San Marco» ausstrahlt, die Besucherinnen und Besucher erfreuen zu können.